Textil- und Flächendesign
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SURROGATE DINING, WS 20/21
SZENARIO
In den letzten 200 Jahren ist die Weltbevölkerung weiter gewachsen, während viele ehemals fruchtbare Böden verseucht oder auf Grund von Bodendegradation nicht mehr nutzbar sind oder einfach zu Bauland umgewandelt wurden. So ist die traditionelle Produktion von Nahrungsmitteln immer schwieriger und zu einer Ursache zahlreicher Konflikte geworden. Um diesen Problemen entgegenzuwirken, wurde auf einem weltweiten Kongress eine radikale Neuausrichtung der Ernährungspolitik beschlossen. Die Nutzung von Lebensmitteln erfolgt heute nicht mehr selbstverantwortlich, sondern im Rahmen eines strikt durchstrukturierten zentralisierten Systems.
Jedem Menschen stehen zwei Mahlzeiten pro Tag zur Verfügung, die seinen gesamten Bedarf abdecken. Um Verteilungsgerechtigkeit zu gewährleisten und möglicher politischer Einflussnahme vorzubeugen, wird die Organisation der Nahrungsversorgung weltweit durch eine KI, die ANA (Augmented Nutrition Authority) um- gesetzt. Jede Person erhält ein Chip-Implantat, welcher den Nährstoffbedarf des Körpers misst und an die ANA übermittelt. Es gewährt Zugang zum allgemeinen Ernährungs Versorgungsplan, berechnet den Verbrauch und die Zusammensetzung der Vitamine und Nährstoffe im Körper und ermittelt die jeweils benötigte Portionsgröße und persönliche Nährstoffzusammensetzung. Auf Basis dieser Daten werden die Nährstoffe in kleine Kugeln zusammengepresst und in kommunalen Distributionsstellen täglich ausgeteilt, wo sie sofort eingenommen werden können.
Diese Art der Nahrungsaufnahme, die mit dem traditionellen Essen nichts mehr verbindet, hat auch die Gesellschaft insgesamt sehr verändert und zu Anonymität und wachsenden Problemen wie Einsamkeit, Depression, Zerfall sozialer und familiärer Bindungen und verbreiteter Gefühlsarmut geführt. Nach einiger Zeit musste man sogar körperliche Transformationen feststellen, insbesondere das allmähliche Sich-Zurückbilden des Gebisses. Ein ausgeprägter Kiefer und schöne Zähne sind zu einem immer schwerer erreichbaren Schönheitsideal geworden. Um sie wenigstens teilweise zu erhalten und zu trainieren, musste eine zweite das Kauen erfordernde Kapsel eingeführt werden.
KONZEPT
Wir schlucken Kapseln, welche anhand von ANA-Daten erstellt worden sind. Es ist wie Akku-Aufladen, nur mit Nährstoffen. Eine tägliche private Notwendigkeit, so wie Zähne putzen oder aufs Klo gehen. Früher war das mal anders. Bis Mitte des Anthropozän Zeitalters bereiteten die Menschen ihr Essen selber zu und nahmen es in eine Art Ritual gemeinsam ein. Für einige mag das befremdlich wirken, ab so schlecht ist die Idee gar nicht. Deshalb haben sich jetzt auch informelle Gruppen gebildet, die wieder eine gemeinsame Form von Essen etablieren wollen. Zwar stehen auch ihnen nur die vorfabrizierten Kapseln zur Verfügung, aber mit denen lässt sich hin- sichtlich Zubereitung und der Art sie zu verspeisen, doch einiges anstellen.
Das gesamte Ritual eines Surrogate Dinings setzt auf langsame Abläufe, Einbindung der einzelnen Personen und einen klaren Ausstieg aus dem Alltag. Durch die Interaktion mit bestimmten Tools wird eine Stimmung geschaffen, in der der emotionale Austausch und die soziale Gemeinschaft wieder aufleben. So nutzen die Teilnehmer*innen z. B. sogenannte Aprons, die sich wie rituelle Gewänder über ihre Alltagskleidung legen und durch ihre Uniformität und ihren speziellen Schnitt zu ruhigen und entspannten Bewegungen führen. Bevor die Kapseln verspeist werden, können sie mithilfe einer speziellen Vorrichtung zum Schmelzen gebracht werden. So findet wieder eine gewisse Art der Zubereitung am Tisch statt, die sowohl eine neue Auseinandersetzung mit dem Material, als auch neue subjektive Konsistenz Erfahrungen ermöglicht.
Menschen während des Surrogate Dinings sind, so die Idee, mit allen Sinnen am Tisch, fühlen sich geborgen und treten für eine kurze Zeit in einen Raum, der sie aus ihrem hoch getakteten und gleichzeitig bedeutungslosen Alltag herausführt. Durch das ritualisierte gemeinsame Essen werden nicht nur das Zeitgefühl, sondern auch
die Stressbewältigung, die Wahrnehmung der körperlichen und seelischen Bedürfnisse und der emotionale Austausch trainiert. Fähigkeiten, die in einer optimierten Welt zunehmend verkümmert sind. So dienen diese Praktiken (auch) dazu, die seelischen Zivilisationskrankheiten unserer Zeit zu bekämpfen und einen neuen sozialen Zusammenhalt entstehen zu lassen.