Textil- und Flächendesign
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DISTORTED VISIONS, WS 20/21
SZENARIO
Liebe Oma Luise,
Du wunderst dich bestimmt einen Brief von mir zu be- kommen. Wahrscheinlich hast du in der Zwischenzeit
oft versucht mich über den Messenger zu erreichen, aber den benutze ich nicht mehr. Ehrlich gesagt ist mir das mittlerweile zu gefährlich geworden. Meine Profile können nicht mehr deaktiviert werden, ich bekomme abstruse Nachrichten auf den Bildschirm, die ‚bold action‘ Plattform ist plötzlich gesperrt, unsere Arbeit muss wohl aufgefallen sein, wir werden ständig überwacht ...
Letztens hast du mich gefragt ob ich nicht Angst habe dass mir etwas zustoßen könnte, und ja ich habe Angst und gleichzeitig so eine Wut in mir. Ich muss richtig da- gegen ankämpfen mich nicht lähmen zu lassen, von dieser Angst die mich eigentlich schon mein ganzes Leben begleitet. Ich weiß gar nicht, ob du dir vorstellen kannst, wie dieses Gefühl ist, die Welt die uns umgibt wirkt friedlich und frei, aber gleichzeitig wird einem beigebracht Angst zu haben und vorsichtig zu sein. Es macht einen fast schizophren denn man lebt in zwei Welten, unter permanenter Kontrolle von außen zu stehen aber auch unter permanenter Selbstkontrolle.
Schon früher, wenn ich mit Mama und Papa am Frühstückstisch saß, hatte ich dieses Gefühl, dass alle Handlungen wie programmiert sind, darauf bedacht bloß nichts dem Zufall zu überlassen, bloß nichts falsch zu machen, obwohl wir doch nur unter uns waren. Ich weiß gar nicht ob es ein Wort für dieses Gefühl gibt, Ohnmacht vielleicht?! Paranoia ... Egal wie man es nennt meine gesamte Generation leidet darunter. In der Schule haben wir gelernt dass es etwas Gutes ist überwacht zu werden, es wurde gesagt, dass die Kameras die unsere Straße pflastern, uns beschützen würden, vor was sie schützen sollten ... wurde mir nie gesagt. Jetzt weiß ich, dass ihre Definition von Schutz Kontrolle heißt ...
Na ja, ich muss jetzt aufhören, bevor hier gleich noch eine Mini-Drohne rumschwirrt, ich hoffe, Dir geht’s wenigstens gut,
XOXO, Deine v
KONZEPT
Wie können Textilien vor digitaler Erkennung schützen? Die digitale Überwachung, die wir vom Internet schon lange kennen, hat längst auf den öffentlichen Raum übergegriffen. Immer dringender müssen wir uns der Frage stellen, wie wir uns tarnen können, um nicht ständig von den allgegenwärtigen Überwachungskameras observiert zu werden. Es ist an der Zeit, unsere Strategien anzupassen. Wie überlisten wir die Algorithmen, da- mit sie uns nicht mehr so leicht über Gesichtserkennung oder Körpervermessung identifizieren können?
Die maschinelle Erkennung des Menschen basiert auf Wiedererkennung von Proportionen. So werden bei der Gesichtserkennung helle und dunkle Bereiche voneinander getrennt, wodurch die Identifikation der jeweils individuellen Proportionen eines Gesichts erleichtert wird. Bei der Körpererkennung werden vor allem Merk- male wie Größe, Silhouette, Proportionen und individuell typische Bewegungsmuster analysiert. Mit diesen lässt sich jedoch auch gezielt Verwirrung stiften, sodass die gespeicherten und die tatsächlich vermittelten Körperinformationen nicht mehr übereinstimmen.
Eine wesentliche, wenn nicht sogar die entscheidende Komponente einer solchen Strategie ist die Kleidung. Durch sie lassen sich verschiedene Tarnungsmethoden anwenden. Zum Beispiel Muster, die die Bewegung und Konturen des Körpers verfremden; Polsterungen, die seine Statur verändern; Plissees, die konträre Bewegungsverläufe erzeugen und Volumenänderungen simulieren. Besonders das Zusammenspiel solcher Elemente, bei dem unorthodoxe Farb- und Musterkombinationen auf unklare Formen treffen, wirkt auch auf Künstliche Intelligenzen verwirrend. Die Kleidung an unseren Körpern wird in einem ganz anderen Sinne als bisher zu einer schützenden Hülle zwischen Individuum und Außenwelt. Durch diese Anforderungen, die Kleidungsstücke erfüllen müssen, entwickelt sich parallel eine eigene Ästhetik, die die ganze Erscheinung unserer Öffentlichkeit auf den Kopf stellt.