Textil- und Flächendesign
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GEFLECHT, WS 20/21
SZENARIO
In 20 Millionen Jahren ist die Menschheit längst vergessen. Trotzdem hat sie die Entwicklung der Erde stark beeinflusst. Durch den Klimawandel und das Artensterben sind die ökologischen Systeme zwischen den Jahren 2100 und 2130 massiv aus dem Gleichgewicht geraten. Extreme Temperaturen, fortschreitende Wüstenbildung und austrocknende Wasserbecken machten das Über- leben von Pflanzen und Tieren immer aussichtsloser. Nachdem schließlich, trotz aller Versuche, die entstandenen Probleme technisch zu lösen, praktisch alle Lebewesen vom Erdboden verschwunden waren, begann das Zeitalter der Flechten.
Als einzige Organismen hatten sie mit den drastischen Veränderungen kein Problem, sondern konnten eher noch von ihnen profitieren. Durch ihr intelligentes Wassermanagement und ihre Hitze- und Kälteresistenz besaßen sie die idealen Voraussetzungen, um die nun freigewordenen Räume zu besetzen. Nach und nach besiedelten sie immer größere Teile der Erde und optimierten kontinuierlich ihre Fähigkeiten.
Flechten sind nun in der Lage, ihren Wasserhaushalt eigenständig zu regulieren und dadurch ihr Wachstum nicht nur zu steuern, sondern auch gezielt zu beschleunigen. Gleichzeitig haben sie innerhalb ihrer vernetzten Strukturen eine Art Kommunikationsfähigkeit entwickelt, die es ihnen erlaubt, Informationen zu verarbeiten und auch über größere Distanzen zu übertragen. So ist es ihnen möglich, trotz ihrer stationären Natur, Bewegungen durchzuführen und aktiv neue Lebensräume zu erobern. Im Zuge dieser evolutionären Strategie sind sie auf dem besten Wege, sich zu einer neuen Form von Intelligenz zu entwickeln, auf Basis ihrer fortschreitenden Vernetzung zu umfassenden Hyper-Organismen. Es scheint nicht ausgeschlossen, dass sie in Zukunft sogar eine eigene Art von Kultur und Gesellschaft hervorbringen.
Obwohl der Mensch schon lange keine Rolle mehr in diesem neuen Erdzeitalter spielt, hat er dieses Weltgefüge maßgeblich beeinflusst, auch indem er vor 20 Millionen Jahren begann die Flechten für seine Zwecke zu kultivieren.
KONZEPT
Flechten sehen aus wie Pflanzen, sind aber in Wirklichkeit eine Symbiose aus Algen und Pilzen. Sie kommen mit extremen Temperaturen zurecht, brauchen weder Wurzeln noch direkten Zugang zu Wasser und sind scheinbar in der Lage, ganz autonom zu existieren. Ihr Trick: Alles, was sie benötigen, bekommen sie aus der Luft. Besonders gut darin ist die Bartflechte (Usnea). Ihr sehr dichtes Geflecht hängt, an nur einem Punkt befestigt, in der Luft und kann sehr effizient Feuchtigkeit aus ihr herausziehen. Diese kondensiert an der Flechte so- gar so gut, dass sich oft, wenn sie schon vollgesogen ist, zusätzlich Wassertröpfchen auf der Oberfläche bilden.
In Zeiten zunehmender Wasserknappheit können diese Eigenschaften auch vom Menschen genutzt und in seine Architektur integriert werden. Mit Flechten als Teil einer funktionalen Fassade lässt sich eine kontinuierliche Wasserversorgung auch unabhängig von einer externen Infrastruktur oder Niederschlägen erreichen. Umgesetzt wird das Konzept in diesem Projekt in Form von Modulen, die bereits vorab bepflanzt und an einem Trägersystem installiert werden. Über cutouts und Rohre wird das kondensierte Wasser abgeführt und in einem Tank gesammelt.
Das Projekt steht im Kontext nötiger Anpassungsstrategien an den Klimawandel, hier in Form einer supplementären Installation, die auch den Charakter der gegebenen Architektur verändert. Doch menschliche Konstruktion und natürliches Wachstum verschmelzen nicht nur technisch, sondern machen ein symbiotisches Verhältnis zur Natur auch direkt erfahrbar. Es entwickeln sich Systemzusammenhänge, in denen das Verhältnis und die wechselseitige Abhängigkeit von Mensch und Natur neu definiert werden.
Die Flechte ist in diesem Prozess Mittel und Modell gleichzeitig. Als selbst symbiotisch organisierte Überlebenskünstlerin vereinigt sie Eigenschaften und Potentiale, die für die Zukunft noch eine große Rolle spielen könnten.