Textil- und Flächendesign
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URFIND, WS 20/21
SZENARIO
Taktile Wahrnehmung ist nicht nur die Oberflächensensibilität der Haut, sondern eine Reaktion der Existenz.
Im Jahr 2120 arbeiten Gehirn und Computer zusammen. BMI (Brain-Machine-Interfaces) hat ganze Gesellschaften in die Lage versetzt, ihre Mitglieder nach Art eines Algorithmus zu organisieren. Alles kann jetzt viel schneller und effizienter ablaufen. Die Menschen passen sich vollständig an BMI an und können in Sekunden alle Arten von Informationen in ihren Köpfen speichern, um
z. B. eine Sprache zu beherrschen oder Bücher zu lesen. Aber gleichzeitig wissen die Algorithmen von BMIs nicht nur genau, wie Sie sich fühlen, sondern unzählige weitere Dinge über Sie, die Sie kaum für möglich halten. Entsprechend sollen die Menschen sich auch nicht mehr von ihren Gefühle leiten lassen, sondern von diesen externen Algorithmen. Sie unterstützen sie in ihrem Streben nach angenehmen Empfindungen, während die Toleranz gegenüber unangenehmen Empfindungen immer mehr abnimmt.
Glück, Glück, Glück ...
Durch die lange Nutzung von BMI ist der menschliche Körper unwichtig geworden, es konzentriert sich alles auf den Kopf. Seine Sinnesorgane, Augen, Mund, Nase und Ohren, werden weiterhin intensiv genutzt, und Seh- sinn, Geruchssinn, Geschmackssinn und Hörsinn ständig angeregt. Aber die Haut, eigentlich das größte Organ des Menschen, das Millionen von Berührungsrezeptoren enthält und die Körpergrenze zur Außenwelt bildet, ist in Vergessenheit geraten. Wenn das menschliche Gehirn sich vom Körper unabhängig macht, berühren sich die Menschen auch nicht mehr und verlieren die taktile Wahrnehmung.
Genau das ist passiert, aber jetzt merken einige, dass ihnen etwas fehlt, und geraten in Panik. Können sie so eigentlich noch als Menschen existieren? Lässt sich der Verlust rückgängig machen und der Tastsinn wieder aktivieren?
Zum Glück hat sich schon vor langer Zeit eine Gruppe von Menschen der Versorgung mit BMI entzogen und führt heute ein abgeschiedenes Leben, in dem die natürlichen Sinnesorgane weiter genutzt werden und eine wichtige Rolle spielen. Vom Rest der Gesellschaft wer- den sie als Abweichler betrachtet, auch wenn es praktisch keinen Kontakt zwischen ihnen gibt. Sie wussten, wie wichtig die Sinnesorgane sind, und erleben nun aus der Ferne, wie die von ihnen befürchteten Folgen der Nutzung von BMI eintreten. Es scheint ihr Schicksal zu sein, der Menschheit zu helfen, den Tastsinn wieder zu finden. So erfinden sie eine Oberfläche und nennen sie Urfind. Heimlich installieren sie sie in den Städten und warten darauf, dass etwas passiert.
KONZEPT
Wenn du diese Kontaktflächen berührst, kannst du deinen Tastsinn wieder neu kennenlernen. Die weich flauschige Oberfläche, das Flimmern und die Vibrationen, die nach außen dringen, wenn du sie berührst, und du spürst und siehst ihre Reaktionen. Nach und nach wer- den deine Sinne angeregt, und du verlierst deine Scheu mit ihnen zu kommunizieren und dich auf deine eigenen Empfindungen einzulassen.
Es ist etwas ganz Ungewohntes, eine andere lebendige Oberfläche, eine andere Haut, etwas, worüber du einen ganz neuen Austausch erlebst.
Mein Projekt zielt darauf, von natürlichen Vorbildern inspirierte haptisch anregende Kontaktflächen für öffentliche Räumen zu gestalten, die die taktile Wahrnehmung der Menschen fördern. Wenn in einer Kultur die Begegnung und der physische Kontakt mit realen lebendigen Wesen unterbrochen wurde oder zunehmend von Hemmungen überlagert ist, wäre es wichtig, erst mal die eigenen Sinne wieder zu öffnen.
Urfind bietet die Möglichkeit, spielerisch taktile Erfahrungen zu machen, zu erweitern und mit dem Gefühl der eigenen physischen Präsenz zu verknüpfen. Wir sind eingeladen, die weiche ‚Haut‘ zu berühren und den lang- samen Puls der Bewegungen und des Lichts zu spüren. Je nachdem, mit welcher Kraft die Oberfläche berührt wird, zeigt sie unterschiedliche Reaktionen. Unerwartete Farbveränderungen und Vibrationen ziehen uns in einen sensuellen Austausch mit dem Objekt hinein und lösen unsere Wahrnehmung von den reduzierten, vorgegebenen Mustern, mit denen wir unsere Umgebung erfassen.